Es ärgert mich immer wieder, wenn ich irgendwo höre, dass Depressionen eine Krankheit seien, mit der man eben leben müsse. Wenn Menschen davon sprechen, dass die Depression in ihrer Familie vererbt worden sei und es keine andere Hilfe gäbe als Pillen zu nehmen oder das Ganze einfach auszuhalten.
Für mich sind Depressionen ein Ausdruck von einer Kombination von Dingen, die nicht stimmen. Und diese Kombination ist so unterschiedlich, wie wir Menschen unterschiedlich sein. Abschließend herausfinden, was jetzt wie wo dazu beiträgt, wird man wahrscheinlich nie. Aber man kann versuchen, die Ursachen einzuordnen. Man kann versuchen, dieser Komplexität zumindest annähernd Herr zu werden. Um dann an den Ursachen arbeiten zu können. Das funktioniert nur eben dann nicht, wenn man einfach nur eine einzige Ursache für alles verantwortlich macht und einfach sagt, das wäre eine Krankheit, weil im Hirn irgendwas falsch läuft. Mit so einer Aussage hält man Menschen im Krankheitszustand, nimmt ihnen die Hoffnung auf Verbesserung und die Motivation für Veränderung.
Im Rahmen meiner Therapie habe ich das Thema für mich greifbar gemacht. Am Ende ist das “Rucksack-Modell” entstanden, das für mich viel Sinn ergeben hat. Es ist kein wissenschaftliches Modell, es ist nicht evidenzbasiert und ich bin weder Psychologe noch Mediziner. Ich finde dennoch, dass das Modell viel mehr erklärt als die These, dass das alles eine unheilbare und lebenslange Krankheit des Gehirns sei. Und darum möchte ich es teilen.
Die Grundkonstitution: organische oder genetische Vorbedingungen
Die Serotonin-Hypothese ist längst widerlegt. Dennoch ist unstrittig, dass manche Menschen von Grund auf eher dazu neigen, depressive Symptome zu entwickeln als andere. Es gibt also eine gewisse Vorprägung, die jeder von uns hat. Ich stelle mir das so vor wie unseren Körper. Manche Menschen werden mit der Veranlagung geboren, schnell starke Muskeln zu enwickeln, andere haben schwache Knochen. So ist es vielleicht auch mit unserer Psyche: manche Menschen kommen mit einer hohen Resilienz auf die Welt, andere reagieren sehr empfindlich auf das, was auf sie einwirkt.
Es gibt also einen Einfluss dessen, wie unser Gehirn funktioniert. Aber für mich ist das nur der erste von vier Faktoren: unsere genetische oder organische Prädisposition.
Der Rucksack – was wir im Leben erlebt haben
Jeder von uns erlebt in seinem Leben prägende Ereignisse – gut und schlecht und mehr und weniger intensiv. Je früher uns diese Ereignisse widerfahren, desto durchschlagender ist ihr Einfluss – in alle Richtungen. Wenig hat so viel Einfluss, wie das was uns unsere Eltern mitgeben. Prägungen, die in frühester Kindheit entstehen, können oft ein Leben überdauern.
Wenn uns hier traumatische Erlebnisse widerfahren, dann ziehen uns diese ein Leben lang wie Steine in einem Rucksack nach unten. Mit guten Knochen und starken Muskeln kann man dennoch einiges aushalten und ausgleichen. Wenn man aber schon mit einer schwächlichen Grundkonstitution auf die Welt kommt, können auch kleine Steine ausreichen, um einen beständig zu Boden zu ziehen.
Was wir im Leben erleben – unser Lebensballast – ist der zweite Faktor: der Rucksack, den wir durch unser Leben tragen.
Der Weg – unsere Lebenssituation
Wenn wir mit einem schweren Rucksack und schwachen Muskeln auf einem gut asphaltierten, bestens ausgeschilderten und angenehm zu laufenden Weg unterwegs sind, dann kommen wir wahrscheinlich trotzdem irgendwie voran. Bewegen wir uns aber auf einem Waldweg, stolpern andauernd über quer liegende Wurzeln oder müssen uns einen steilen Berg hinaufkämpfen, dann machen sich Grundkonstitution und Rucksack schnell bemerkbar. Aber mit starken Muskeln und ohne Rucksack lässt sich auch mancher steile Berg locker bezwingen.
Der Weg ist unsere Lebenssituation. Unsere Arbeitsstelle, unsere familiäre und wirtschaftliche Situation, die Zwänge, denen wir uns unterwerfen, die Entscheidungen, die wir treffen und die Entscheidungen, die für uns getroffen werden.
Wie der Weg unseres Lebens beschaffen ist, ist ebenfalls ein entscheidender Faktor dafür, wie wir auf unserer Reise vorankommen.
Die Menschen – unser soziales Umfeld
Wer Menschen um sich weiß, die einen auf den schwersten Wegen stützen können, der kann auch mit einem schweren Rucksack im Dschungel bestehen.
Wer ständig alleine mit seinem schweren Rucksack unterwegs ist, für den kann auch ein kleines Schlagloch auf der Autobahn ausreichen, um aus dem Gleichgewicht zu kommen.
Die Menschen um uns herum sind ebenfalls ein wichtiger Faktor dafür, wie wir durchs Leben kommen und wie wir die übrigen Dinge schultern, die uns widerfahren.
Depressionen entstehen aus dem Zusammenspiel
Es ist nie nur ein Faktor, der psychische Krankheiten entstehen lässt. Meistens kommen Dinge zusammen. Meistens bleiben Faktoren unbemerkt, bis man irgendwann stolpert und fällt.
Das Fatale ist, dass wir viele dieser Faktoren nicht messen oder vergleichen können. Der Rucksack, den wir tragen, wird sich für uns immer richtig anfühlen. Selbst wenn er viel schwerer ist als der Rucksack unserer Freunde. Ich selbst habe über 35 Jahre lang nicht gedacht, dass ich irgendetwas Problematisches mit mir herumtragen würde. Als dann eine Expertin meinen Rucksack ausgepackt und mir gezeigt hat, was sich alles darin verbirgt, konnte ich am Ende kaum mehr glauben, dass ich all das verdrängen konnte.
Um aber zu dieser Expertin zu kommen, musste ich so lange über steinige Straßen laufen, bis ich irgendwann zusammengebrochen bin. Erst dann habe ich angehalten, erst dann habe ich jemanden in den Rucksack blicken lassen.
Heilung entsteht aus Verständnis
Ich weiß nicht, ob jede psychische Krankheit heilbar ist. Aber ich glaube daran, dass es gute Chancen gibt, zumindest die eigene Lebensqualität zu verbessern, wenn man sich bewusst macht, dass das alles ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren ist. Denn dann kann man gezielt an diesen Faktoren ansetzen.
Den Lebensballast, den Rucksack, kann man mit tiefenpsychologischen Maßnahmen und Therapien bearbeiten. Die sind meistens langwierig und anstrengend, haben dafür aber auch einen langfristigen und nachhaltigen Effekt.
Wenn man aber gerade im strömenden Regen im tiefsten Dschungel unterwegs ist, geht es vielleicht gar nicht darum, seinen Rucksack abzusetzen und zu untersuchen. Dann geht es vielleicht erstmal darum, einen Weg zu finden, auf dem man etwas mehr Ruhe findet. Dafür gibt es verhaltenstherapeutische Maßnahmen, die oft einen schnellen Effekt liefern. Manchmal muss man erst die Lebensumstände ändern, damit man an andere Punkte herankommt. Manchmal reicht es auch schon vollständig aus, einfach nur die Lebensumstände zu ändern.
Manchmal hat man keine Kraft für all das – vielleicht auch, weil die eigene Grundkonstitution dafür nicht ausreicht. Dann können Psychopharmaka helfen. Bewusst eingesetzt, mit einem klaren Ziel und einer klaren Strategie.
Und manchmal (oder meistens) tut es auch gut, wenn man mit einem Freund spricht.
Manchmal geht das aber nicht. Manchmal fehlt die Kraft dafür, an IRGENDeiner Ecke anzusetzen. Und auch das ist okay. Wir müssen nicht jeden Tag immer weiterlaufen, bis wir irgendwann nicht mehr können. Wir dürfen uns auch mal hinsetzen und darüber nachdenken, was unser nächster Schritt sein sollte. Und manchmal dürfen wir auch einfach sauer, traurig oder wütend darüber sein, dass das alles so verdammt schwer ist.
Aber mit diesem Modell verstehen wir vielleicht ein bisschen besser, WARUM das alles manchmal so schwer ist. Und aus diesem Verständnis kann dann Hoffnung entstehen. Und vielleicht auch eine Idee darüber, welchen Hebel wir als Nächstes ansetzen wollen.
Hilfe dafür gibt es unter anderem auch auf dem Hilfsportal www.steine-im-rucksack.de
Und die Geschichte meiner ganz persönlichen Aufarbeitung habe ich hier niedergeschrieben.
Lasst mich gerne wissen, ob dieses Modell beim Verständnis hilft!