Da steht er also. Der Flügel, auf dem das jetzt alles endlich passieren wird. Der einen Meilenstein setzen wird, von dem ich in der einen oder anderen Form geträumt habe, seit ich ein kleines Kind bin. Ein Traum, der mir ausgeredet wurde. Über den mir gesagt wurde, dass ich dafür nicht gut genug sei. Eine vermeintliche Wahrheit, gegen die ich angekämpft habe, die ich widerlegen wollte, irgendwie beharrlich überzeugt war, dass ich es allen irgendwann beweisen werde. Vor allem meinem Vater. Der meine Träume immer klein gemacht hat. Und dann habe ich den Traum irgendwann selbst beerdigt. Mich überzeugen lassen, dass es einfach nicht reicht. Meinem Vater recht gegeben und die Musik sein lassen. Um ein normales Leben zu führen. Was letztlich alles andere als das war.
Mehr als zwanzig Jahre später stehe ich jetzt hier. Und vor mir steht dieser Flügel. In einem Tonstudio. In wenigen Minuten werde ich mein erstes eigenes Album einspielen. Ich werde auf diesem Flügel spielen, ich werde in das daneben gestellte Mikrofon singen. Ich werde das, was ich hier produziere, veröffentlichen. Und ich werde mich dafür nicht schämen.
Ich werde das jetzt tun – und ich werde mich nicht dafür schämen!
Mein Herz schlägt schon ganz schön, als mich Joe, der Produzent, begrüßt. Wir haben uns schon zwei Mal gesehen, aber trotzdem bin ich unheimlich unsicher. Ich habe keine Ahnung, wie ich all das hier angehen muss. Klar, ich habe Gesangsunterricht, ich kenne meine Einsing-Übungen. Ich kenne meine Stücke, ich kann mich ein wenig einspielen. Aber schon dieser Vorgang kostet mich Überwindung. Dass gleich jemand hören wird, wie ich mich einspiele und vielleicht denken könnte, dass das aber ziemlich grober Unfug ist, den ich da mache. Dass mein Klavierspiel schon reichlich simpel sei und dass es ziemlich lächerlich sei, damit auf eine Bühne zu wollen. Dass mich jemand beim Einsingen hört und sich fragt, wieso man mit so einer Stimme denkt, man müsste in ein Tonstudio gehen. Ganz bekomme ich diese zweifelnden Sätze wahrscheinlich nie aus dem Kopf. Aber ich kann ihnen ruhig erwidern, dass ich ein gutes Level erreicht habe, sowohl was mein Klavierspiel angeht, als auch was meinen Gesang angeht. Ich habe genug positives Feedback bekommen, dass ich mich dessen nicht mehr schämen muss. Und Joe hat in seiner langen Karriere bestimmt schon so viel gehört, dass der gar nicht mitbekommt, was ich hier mache.
Als wir anfangen, achte ich penibel genau darauf, keine Fehler zu machen. Jeder Fehler würde bedeuten, dass wir noch mal eine neue Aufnahme brauchen würden, denke ich. Und habe Angst, mich zu verspielen. Genau so wie ich beim Singen Angst habe, Töne nicht zu treffen. Joe merkt das und macht mich sanft darauf aufmerksam, dass ich etwas loslassen darf. Als ich die Aufnahmen zum ersten Mal mit ihm gemeinsam durchgehe, sehe ich, dass man Fehler in der einen Aufnahme ganz einfach mit dem jeweiligen Gegenstück in der zweiten oder dritten Aufnahme austauschen kann. So kann man im Studio die Dinge reparieren, die in der Aufnahme nicht ganz perfekt geklungen haben.
Ich bin heilfroh, dass wir meine Missgeschicke ausgleichen können. Aber er sagt mir, dass er beeindruckt sei, wie wenig Fehler ich machen würde. Dass er bei anderen Musikern sehr viel mehr ausgleichen und nachschieben müsste und dass bei mir sehr vieles einfach rein läuft. Ich höre, wie er das sagt und ich sage mir auch, dass ich das annehmen soll, aber ein (nicht all zu kleiner) Teil in mir will ihm einfach nicht glauben und behauptet, er würde das nur sagen, um mich nicht zu verletzen.
Die Unsicherheit steht immer mit am Mikro
So bleibt während des ganzen Aufnahmeprozesses immer ein Stück Unsicherheit an meiner Seite. Aber ich habe gelernt, dass diese Unsicherheit ein Stück weit dazu gehört. Ich weiß, woher sie kommt. Ich kann sie zuordnen. Es nutzt nichts, sie zu ignorieren oder wegschließen zu wollen. Sie gehört dazu. Zumindest momentan noch.
Nach ein paar Tagen ist es dann soweit – ich darf zum ersten Mal die Aufnahmen hören, die ich mit Joe zusammen aufgenommen habe. Ich bin aufgeregt. Ich freue mich, dass ich mich das erste Mal professionell produziert hören werde. Aber ich habe auch Angst, dass es vielleicht nicht so gut sein könnte, wie ich mir ausmale.
Als ich die ersten Aufnahmen höre, bin ich auf einmal nicht mehr nur kritisch mit mir. Ich zweifle auf einmal an allem. Der Flügel klingt ja gar nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. Ist er verstimmt? Klingt er schräg? Klappert er? Klingt er nicht irgendwie ein Kneipenklavier? Joe versteht nicht, was ich meine. Der Flügel würde doch super klingen. Er dreht ein wenig an ein paar Reglern, stellt die tiefen Töne noch etwas satter ein und langsam gefällt mir der Sound besser. Aber irgendwie bleibt eine große Unsicherheit zurück.
Genau so geht es mir mit meiner Stimme. Ich hatte gedacht, dass Joe irgendetwas mit ihr machen würde. Hall-Effekte verwenden oder Bässe reindrehen oder sonstwie etwas daran drehen, damit ich besser klingen würde. Aber was ich höre, gefällt mir nicht. Ich kann ihm aber nur schwer erklären, was mir nicht gefällt. Er meint, es klänge gut. Und ich sage mir, dass es vielleicht nur mein innerer Zweifler ist, der es nicht erträgt, mich unverfälscht zu hören. Der ein Problem damit hat, meine echte Stimme zu hören und der sie lieber verfälschen und technisieren möchte, damit es nicht mehr ich bin, der da singt, sondern irgendetwas anderes.
Wieso kann ich mich selbst nicht hören?
Wir nähern uns über die Zeit mehr und mehr an. Mir fallen ein paar Dinge ein, die wir ausprobieren könnten, wir drehen etwas am Flügel-Sound und ein klein wenig an meiner Stimme, aber es sind Nuancen. Am Ende steht ein Ergebnis, von dem mir Joe sagt, dass es toll ist, aber ich irgendwie nicht überzeugt bin. Aus meiner Therapie weiß ich aber, dass diese Zweifel für jemanden mit meiner Vorgeschichte einfach dazugehören.
Als ich die ersten Aufnahmen meinen Freunden vorspiele, gibt es viel Lob und Bewunderung. Das Klavier klänge toll, die Soli würden Eindruck machen, meine Stimme habe sich ja richtig entwickelt, das wäre ja wirklich was, was man herzeigen könne und was sich gelohnt habe. Erst über diese Rückmeldung kann ich langsam eine Beziehung zum entstandenen Werk aufbauen. Erst nachdem mir andere gesagt haben, dass es gut ist, was da entstanden ist, kann ich meine inneren Zweifler langsam leiser machen. Verstummen werden sie wahrscheinlich nie. Aber ich kann ihnen mit Ruhe und Entschlossenheit entgegentreten und sagen: ihr habt Unrecht! Schweigt!
Inzwischen habe ich die Aufnahmen viele Male angehört. Inzwischen bin ich glücklich damit. Inzwischen kann ich den Flügel genießen und meine eigene Stimme auch. Inzwischen bin ich stolz darauf, was wir gemeinsam geschaffen haben. Aber es war ein Weg, dorthin zu kommen. Genau so wie dieses ganze Leben ein Weg ist. Wie es das bisher war und wie es weiterhin sein wird. Das muss ich mir immer wieder bewusst machen. Intuitionen sind gut und hilfreich, aber manche vermeintliche Intuition kann auch eine Hass-Botschaft aus der Vergangenheit sein. Wir werden oft von Dingen gesteuert, die uns überhaupt nicht bewusst sind und lassen uns davon durchs Leben treiben. Durch meine Therapie konnte ich vieles bewusst machen. Vieles ans Licht holen, was vorher verborgen war. Darum ist es trotzdem nicht weg. Aber es ist sichtbar. Ich kann damit arbeiten, ich kann es BEarbeiten, ich kann damit leben lernen.
Ich bin gespannt, was passieren wird, wenn meine Musik dann wirklich veröffentlicht wird. Dann kann man mich überall finden. Aber das heißt auch, dass jeder etwas dazu sagen kann. Welche Rückmeldungen wird es dann geben? Wird es Menschen gefallen, was wir gemacht haben? Wird es Kritik geben? Werde ich vielleicht sogar zerrissen? Wird mein innerer Zweifler genährt werden oder bekomme ich ihn endlich stumm? Oder gibt es einfach gar keine Reaktion?
Ich weiß nicht, was passieren wird. Aber ich denke, ich kann inzwischen mit allem umgehen. Denn ich habe für mich akzeptiert, dass das, was wir gemacht haben, so gut ist wie es aktuell sein kann. Ich habe weiter Gesangsunterricht, ich arbeite weiter an mir und vielleicht kann ich irgendwann auch noch etwas nachlegen. Vielleicht muss ich das aber auch gar nicht.
Ich weiß jetzt schon, dass ich zumindest ein paar Menschen damit glücklich gemacht habe. Wie viele es am Ende noch werden, das wird man dann sehen müssen. Aber jeder Einzelne, der etwas damit anfangen kann, jeder Mensch, den ich damit berühre, ist die ganze Mühe wert gewesen. Und dass ich mir meinen eigenen kleinen Traum erfüllt habe, ohnehin. Was jetzt daraus wird, kann ich nicht mehr beeinflussen. Ich kann es nur gespannt erwarten, annehmen und damit umgehen lernen. Davor habe ich immer noch gehörig Respekt. Aber ein kleines Bisschen kann ich mich auch darauf freuen.
Auf Grundlage dieses Textes hat Anja Hilgert ein wunderbares und sehr lesenswertes Porträt auf www.johannstadt.de gechrieben.